Aufruf für eine Kinderunion

20 November 2020
Aufruf für eine Kinderunion

UNSERE FORDERUNGEN

Bereits vor der Pandemie waren in der Europäischen Union 23 Millionen Kinder von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die finanziellen Schwierigkeiten, mit denen europäische Familien in dieser Zeit zu kämpfen haben, sowie die Unterbrechungen im Regelschulbetrieb und bei Betreuungsleistungen haben die ohnehin schon besorgniserregende Situation weiter verschärft. Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen kamen viele in der Schule nicht mehr mit, was auch zu Schulabbrüchen führte. Die fehlenden Kontakte mit Gleichaltrigen wirken sich auf die psychische Gesundheit von Kindern aus. Die Folgen sind je nach sozioökonomischem Hintergrund sehr unterschiedlich, wobei die Armut zugenommen hat.

Die Auswirkungen der Pandemie auf die Ungleichheit zwischen Kindern sind unterschiedlich und alarmierend. Aus diesem Grund fordern wir die Europäischen Institutionen auf, neue Anstrengungen zur Umsetzung einer Kinderunion zu unternehmen, die die Chancengleichheit für alle Kinder garantiert. Außerdem fordern wir unverzügliches Handeln zur Umsetzung der Kindergarantie und des Programms „Next Generation EU“, die tatsächlich den kommenden Generationen Europas zugute kommen müssen.

Es besteht kaum Zweifel daran, dass die Fragilität Europas auf die zunehmenden Ungleichheiten und die anhaltende Aushöhlung des Wohlfahrtstaates zurückzuführen ist, die die Anfälligkeit unserer Gesellschaft für wirtschaftliche, ökologische und gesundheitliche Krisen verstärkt haben.

Unsere Kinder sind der Schlüssel zu gerechteren und nachhaltigeren Gesellschaften. Ungleiche Lebenschancen entstehen nachweislich schon in den ersten Lebensjahren und werden weitgehend an die nächste Generation vererbt. Derzeit werden viele Familien mit kleinen Kindern nicht angemessen unterstützt und nur die Hälfte der EU-Mitgliedstaaten hat das EU-Ziel erreicht, wonach für 33 % der Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsplatz in der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung (FBBE) verfügbar sein muss.

Die von EUROSTAT vorgelegten Zahlen wären auch ohne die Auswirkungen von COVID-19 besorgniserregend. In neun Ländern kommt weniger als eines von fünf Kindern in den Genuss einer Kinderbetreuung. In der Regel stammt dieses Kind aus einem wohlhabenderen Haushalt. Es ist besorgniserregend, dass Kinder aus benachteiligten Familien, Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Kinder aus einkommensschwachen Familien und Kinder in ländlichen und abgelegenen Gebieten deutlich seltener FBBE-Angebote in Anspruch nehmen.

In einigen Ländern nutzen weniger als 20 % dieser Kinder ein FBBE-Angebot – in Haushalten mit den höchsten Einkommen sind es mehr als 70 %. Laut einer Studie der Stiftung für progressive europäische Studien (FEPS) und Partner steigt die Wahrscheinlichkeit, dass 0- bis 3-Jährige aus Haushalten, die in Bezug auf den sozioökonomischen Status zu den unteren 40 % zählen, als Teenager Durchschnittsleistungen erbringen, in Europa um 15 % an, wenn diese Kinder im Alter von 1 bzw. 2 Jahren Zugang zur Kinderbetreuung haben. In der Studie wird hervorgehoben, dass Sozialleistungen durchaus Auswirkungen auf die späteren Lernergebnisse der Kinder haben. Liegt die Beschäftigungsquote von Frauen beispielsweise über dem EU-Durchschnitt und haben beide Elternteile Anspruch auf Elternurlaub, ist es für Kinder aus benachteiligten Haushalten leichter, gute Lernergebnisse zu erzielen. 

Solange keine hochwertigen und inklusiven Dienstleistungen gewährleistet werden, wird die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung in Europa nicht zur Verringerung von Ungleichheiten und zur Beseitigung der sozialen Ausgrenzung beitragen, sondern weiterhin nur dazu dienen, dass Kinder aus besser gestellten Haushalten ihr Potenzial bestmöglich ausschöpfen können.

Als fortschrittliche Kraft fordern wir einen systemischen Wandel: weg von FBBE als nachfrageorientiertem Dienst und hin zu einer Ära, in der jedes Kind diesbezüglich einen im EU‑Recht verankerten Rechts- und Sozialanspruch hat.

Die EU verfügt über die Fähigkeit zur politischen Innovation und die politische Stärke, den Weg für eine neue Ära der Unterstützung und Entwicklung für alle Kinder in Europa zu ebnen und die überaus starren Trends der Ungleichheit zu brechen. Vor diesem Hintergrund haben wir – progressive Führungskräfte, Wissenschaftler und Aktivisten aus ganz Europa – die Vision einer Kinderunion, die auf folgenden Zielen beruht:

1. Ein rasches Inkrafttreten der Europäischen Kindergarantie Viele Mitglieder des Europäischen Parlaments sowie alle progressiven Kräfte fordern eine europäische Kindergarantie, um die vielfältigen Aspekte der Kinderarmut anzugehen.

Die Kindergarantie würde gewährleisten, dass jedes europäische Kind, das in Armut lebt oder von Armut bedroht ist, Zugang zu hochwertiger und kostenloser frühkindlicher Betreuung sowie zu Gesundheitsversorgung, Bildung, angemessenem Wohnraum und gesunder Ernährung hat. Die Verhandlungen laufen noch. Es muss alles daran gesetzt werden, sicherzustellen, dass die Kindergarantie fester Bestandteil der EU-Politik wird. Dazu gehören Haushaltsmittel in Höhe von 20 Milliarden Euro und verbindliche Finanzierungszusagen für die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer nationalen ESF+-Programme.

2. Entwicklung eines Investitionsökosystems für europäische Kinder, ausgehend von einer angemessenen Planung der Finanzierung des Programms „Next Generation EU“ Da Kinder am stärksten unter der Pandemie zu leiden haben, sollte die Kinderunion zu einem Grundpfeiler der EU‑Strategie zur Konjunkturbelebung werden. Dies erfordert eine Neuausrichtung der nationalen Konjunkturprogramme auf die Betreuungsdienste für die künftigen Generationen Europas.

Ein Investitionsökosystem für europäische Kinder sollte auf der Kindergarantie, der Aufbau- und Resilienzfazilität, den Strukturfonds sowie nationalen Mitteln aufbauen und darauf abzielen, die Bereitstellung hochwertiger und inklusiver FBBE-Angebote für alle effizienter zu machen, wobei besonderes Augenmerk auf die am stärksten benachteiligten Kinder und Familien gelegt werden sollte.

3. Sicherung eines gleichberechtigten Zugangs zu hochwertiger und inklusiver frühkindlicher Betreuung und Bildung für alle Die EU-Gesetzgebung sollte dafür Sorge tragen, dass die Rechte und Rechtsansprüche von Kindern durch allgemein zugängliche und erschwingliche öffentliche Angebote für alle und entsprechende Mittel für benachteiligte und gefährdete Kinder gewährleistet werden. Die Förderung von Qualität und Inklusivität ist eine Schlüsselpriorität. Dazu gehören i) angemessene Löhne und Schulungen für Lehrkräfte, um der nächsten Generation Europas die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts zu vermitteln, die diese benötigt, um erfolgreich zu sein; ii) die Stärkung der Emanzipation von Kindern und ihrer Rolle als Akteure des Wandels; iii) eine bessere Einbeziehung und Beteiligung von Eltern und Gemeinschaften; vi) die Nutzung der Synergien zwischen der FBBE und der Sozialschutz- und Beschäftigungspolitik. Von entscheidender Bedeutung sind die Bekämpfung struktureller Ungleichheiten als Risikofaktoren für die Entwicklung von Kindern, Einkommensunterstützungsmaßnahmen zugunsten von Kindern, aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, insbesondere für die Beschäftigung von Frauen, gesetzlich oder tarifvertraglich garantierte Mindestlöhne und angemessener Elternurlaub für Mütter wie Väter.

Die COVID-19-Pandemie hat sozial schwache Haushalte vor neue dramatische Herausforderungen gestellt. Als Fachleute, Aktivisten und politische Akteure sind wir der Auffassung, dass es an der Zeit ist, dass sich Europa höhere Ziele steckt und wir die nachdrückliche Forderung nach einer Kinderunion stellen. Wir fordern die EU auf, die Erwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen und ihr Wohlergehen nicht nur durch die Bankenunion, die Kapitalmarktunion, die Energieunion und andere Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu sichern, sondern auch durch eine Sozialunion, die sich das Wohl eines jeden Kindes auf die Fahnen geschrieben hat.

 

Über 300 prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft haben diesen Aufruf bereits unterzeichnet. Eine aktualisierte Liste finden Sie hier.

 
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