Migration: Irrungen und Wirrungen
Die Frage, wie eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik aussehen sollte, ist seit 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise in Europa, unbeantwortet geblieben. Nur ein halbes Jahrzehnt später wurde ein weiterer Akt desselben Dramas eröffnet: Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Europa wurden zur Bekämpfung des Virus Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit und Regeln für die soziale Distanzierung erlassen, die mit der Lebenswirklichkeit von Migrantinnen und Migranten in überfüllten Aufnahmezentren und -lagern unvereinbar sind.
Die Reaktion der Mitgliedstaaten fiel unterschiedlich aus. Einerseits ließen sie es zu, dass die Situation in den Flüchtlingscamps – wie auf der griechischen Insel Lesbos – unerträglich wurde, insbesondere für unbegleitete Kinder. Andererseits zeigten sich einige Länder solidarisch mit den Migrantinnen und Migranten. So gewährte etwa Portugal Migranten und Asylbewerbern, deren Antragsverfahren bereits lief, vorübergehend staatsbürgerliche Rechte, um den Zugang zu sozialer Sicherheit und Gesundheitsversorgung während der Pandemie zu garantieren.
Darüber hinaus haben die europäischen Städte als diejenigen, die unmittelbar für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Migranten verantwortlich sind, ihre Zusammenarbeit verstärkt, um neue Formen der Solidarität zwischen den Gemeinden – wie etwa die Initiative „Seebrücke“ in Deutschland – zu entwickeln und damit die Untätigkeit der Mitgliedstaaten anzuprangern. Aber werden ihre Forderungen nach Solidarität in den Hauptstädten Gehör finden? Es ist an der Zeit, dass Europa alle Interessenträger an einen Tisch bringt und endlich die Herausforderung in eine Chance verwandelt.
Gemeinsam einen Neustart erreichen?
Im vergangenen September legte die Europäische Kommission schließlich ihre lang erwarteten Vorschläge für ein neues Migrations- und Asylpaket vor. Es gab große Hoffnungen, dass sie damit die Gelegenheit ergreifen würde, nach vielen Jahren des Stillstands ein gründlich reformiertes europäisches Asylsystem auf den Weg zu bringen.
Die erste Säule des Pakets zielt auf wirksamere und schnellere Verfahren ab, indem ein integriertes Grenzverfahren zur Feststellung des Schutzanspruchs einer Person eingeführt wird. Die zweite Säule bezweckt eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten sowie Solidarität durch flexible Beiträge der Mitgliedstaaten: Diese reichen von der Umverteilung von Asylbewerbern aus dem Land der ersten Einreise bis hin zur Übernahme der Rückführung von Personen ohne Aufenthaltsrecht oder auch verschiedene Formen der operativen Unterstützung. Das Paket wird auch von einem Aktionsplan für Integration und Inklusion flankiert, der eine maßgeschneiderte Unterstützung für Migranten und EU-Bürger mit Migrationshintergrund vorsieht, um die Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum zu gewährleisten – das Ganze finanziert mit EU-Mitteln etwa aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfonds Plus oder dem Asyl- und Migrationsfonds.
Obwohl es einen Neustart bewirken sollte, entfachte das Paket erneut einen alten Streit zwischen den Mitgliedstaaten, die zum Teil (in erster Linie Deutschland, Frankreich und die Länder an den südlichen Außengrenzen) eine gemeinsame europäische Lösung und mehr Solidarität fordern, um die an vorderster Front stehenden Länder zu entlasten, und zum Teil (die Tschechische Republik, Ungarn, Polen und Slowakei) die Reformen und obligatorische Solidaritätsregelungen bei der Umsiedlung ablehnen.
Aus sozialdemokratischer Sicht ist das Paket ein erster Schritt in die richtige Richtung, doch sind mehr Ehrgeiz und Entschlossenheit notwendig:
„Wir verfolgen die Diskussionen im Rat über den neuen Migrations- und Asylpakt, und bei uns läuten die Alarmglocken. Der Rat konzentriert sich zu sehr auf weitere restriktive Maßnahmen und kehrt gefährdeten Menschen, die Schutz suchen, den Rücken. Solidarität bedeutet nicht nur Unterstützung von Mitgliedsstaaten, sondern auch, Wege zur Unterstützung schutzbedürftiger Menschen zu finden. Das Recht des Einzelnen auf Asyl, mit einer umfassenden Prüfung, muss ein Eckpfeiler jedes zukünftigen Asylsystems in der EU bleiben“, betont Birgit Sippel, sozialdemokratische Fraktionssprecherin für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres.
Wenn wir das Paket in einen echten Pakt verwandeln wollen, von dem sowohl die Migrantinnen und Migranten als auch die Aufnahmegesellschaften profitieren, muss Europa qualitative Fortschritte erzielen, indem es die rein nationalen Interessen überwindet und Lösungen wählt, die auf Fairness und echter Solidarität beruhen.
Städte und Regionen – vor Ort mit gutem Beispiel vorangehen
So lautet auch die Kernaussage von SPE-Fraktionsmitglied Antje Grotheer, Vizepräsidentin der Bremischen Bürgerschaft und Berichterstatterin für die Stellungnahme des Europäischen Ausschusses Regionen zum Paket. Tatsächlich hat das Paket erhebliche Auswirkungen auf die Städte und Regionen, die ja die Migrationsströme an der Basis unmittelbar bewältigen müssen, indem sie den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Bildung gewährleisten.
„Ein erfolgreiches Krisenmanagement beginnt insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene; daher sollte die Koordinierung mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften höchste Priorität haben. Im Interesse echter europäischer Solidarität kann eine wirksame Migrationssteuerung nicht allein Aufgabe der Grenzregionen sein. Gleichzeitig muss mit dem von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Solidaritätsmechanismus ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Formen der Solidarität erreicht werden. Auch bleibt abzuwarten, ob das System der ,Rückkehrpatenschaften‘ praktisch umsetzbar ist“, so Antje Grotheer.
Sie betont ferner, dass unser Handeln in allererster Linie von der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit geleitet sein muss. Zu diesem Zweck formuliert sie in ihrer Stellungnahme eine Reihe konkreter Forderungen, darunter:
- Verringerung des Drucks auf die Grenzregionen als Orte der ersten Einreise, indem Verfahren auch in anderen, nicht an der Grenze gelegenen Regionen durchgeführt werden können;
- Weiterentwicklung der Neuansiedlungsprogramme und Schaffung weiterer humanitärer Aufnahmeprogramme;
- kürzere Fristen für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz und eingelegten Rechtsmitteln;
- wirksamerer Schutz besonders gefährdeter Migranten wie Kinder, Frauen, Menschen mit Behinderungen und LGBTIQ-Personen;
- vollständige Aussetzung der Inhaftierung von Minderjährigen in Verfahren an der Grenze und Angleichung der Altersgrenze für die Erfassung biometrischer Daten an die für Visumantragsteller geltende Altersgrenze;
- bessere Einbindung der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in die Maßnahmen im Vorfeld von Ausreise und Ankunft der Migrantinnen und Migranten;
- mehr finanzielle Unterstützung für die Städte und Regionen, die Migranten aufnehmen, und Ermöglichung des direkten Zugangs zum Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU.
Eine erfolgreiche Migration muss mit Integration Hand in Hand gehen. Daher ist der Aktionsplan für Integration und Inklusion eine dringend notwendige Ergänzung des Pakets, wobei die Schlüsselrolle der Städte und Regionen anerkannt und ihnen Unterstützung angeboten werden muss. „Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften tragen nicht nur entscheidend dazu bei, die Integrations- und Inklusionsmaßnahmen vor Ort umzusetzen, sondern auch die Solidaritätsdynamik aufrechtzuerhalten, da viele Städte und Regionen bereit sind, sich aktiv an der Aufnahme und Eingliederung schutzbedürftiger Migrantinnen und Migranten zu beteiligen“, so Antje Grotheer. „Sie spielen auch eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von Desinformation über Integration und Migration, indem sie ein positives Narrativ fördern, das sich auf konkrete Fakten und Zahlen stützt.“
Dies war auch ihre wichtigste Botschaft an Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, die den Aktionsplan für Integration und Inklusion mit den Mitgliedern des Europäischen Ausschusses der Regionen auf der Plenartagung im März erörterte und ihre Unterstützung für die Initiative des Ausschusses #regions4integration anbot.
"We need to tackle disinformation.
— PES Group Committee of the Regions (@PES_CoR) March 19, 2021
We need to reverse the narrative on migration and integration through positive action and dissemination of good practices in order to halt further polarisation in our societies."@a_grotheer #CoRPlenary #Regions4Integration pic.twitter.com/wu0onUs8HT
Der Einsatz lohnt sich
Die fremdenfeindlichen Wortführer, die – vergeblich – versucht haben, den Standpunkt des Europäischen Ausschusses der Regionen zum Paket zu schwächen, haben uns einen Vorgeschmack auf die noch bevorstehenden schwierigen Verhandlungen gegeben. Alle Augen sind jetzt auf Portugal gerichtet, das die Erzielung von Fortschritten beim Migrations- und Asylpaket zu einer seiner Prioritäten des EU-Ratsvorsitzes erklärt hat. Allerdings müssen wir noch weiter denken: Wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, wird die Zahl der Flüchtlinge und Migranten weiterhin weltweit steigen. Eine zukunftsfähige Migrationspolitik für Europa setzt daher voraus, dass sowohl aus den tragischen Erfahrungen der Vergangenheit Lehren gezogen als auch umfassendere Herausforderungen langfristig antizipiert werden können.
Als progressive Kommunal- und Regionalpolitikerinnen und -politiker aus der ganzen EU werden wir uns weiterhin Gehör verschaffen und eine starke europäische Migrations- und Asylpolitik fordern, die auf Solidarität und Menschenrechten beruht.
Gleichzeitig werden wir in unserer täglichen Arbeit durch konkrete Maßnahmen als Hauptakteure der EU-Asylpolitik mit gutem Beispiel vorangehen. Denn Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Plattform und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, liegt mit ihrer Analyse völlig richtig: „Aufgrund der Machtstrukturen sind die Nationalstaaten in der EU nicht in der Lage, konstruktive Antworten auf die Flüchltings- und Asylfrage zu liefern. Überall auf der Welt werden die Kommunen mehr und mehr zu den Motoren einer innovativen demokratischen Politik. Sie sind miteinander vernetzt und könnten damit zu einem integrativen ,Sicherheitsnetz‘ für die Bürgerinnen und Bürger in der EU werden. Es lohnt sich, für dieses Ziel zu arbeiten“.