Der Grundsatz, dass Arbeit das beste Mittel gegen Armut ist, trifft auf viele der immer mehr werdenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU, die für ihren Lebensunterhalt auf mehr als einen Arbeitsplatz angewiesen sind, nicht mehr zu. Diese „Erwerbsarmut“ verschärft die soziale Ungleichheit und Ausgrenzung zusätzlich zu den Belastungen, denen die schwächsten Arbeitnehmer in der COVID-19-Pandemie ohnehin schon ausgesetzt sind.
Nach der Definition von Eurostat sind Erwerbstätige von Erwerbsarmut bedroht, wenn ihr verfügbares Einkommen weniger als 60 % des mittleren nationalen Haushaltseinkommens beträgt. Die Daten von Eurostat zeigen, dass im Jahr 2018 9,4 % der europäischen Beschäftigten von Armut bedroht waren, was den sozialen Zusammenhalt sowohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch zwischen diesen ernsthaft gefährdet. Darüber hinaus ist der Anteil der von Armut bedrohten Beschäftigten zwischen 2019 und 2020 in 16 Mitgliedstaaten sogar angestiegen.
Vor diesem besorgniserregenden Hintergrund hat die Europäische Kommission nach einer zweistufigen Anhörung der Sozialpartner am 28. Oktober 2020 ihren dringend erwarteten Vorschlag für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne vorgelegt. Die progressiven politischen Kräfte und der Europäische Gewerkschaftsbund fordern seit Langem einen Vorschlag für gerechte Mindestlöhne. Laut EU-Kommissar Nicolas Schmit (SPE/Luxemburg) darf es nicht sein, dass Menschen, die einer Arbeit nachgehen, Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen.
70% of workers on minimum wages find it hard to make ends meet. Many of them are doing essential jobs on the frontline of #Covid19. Applauding then is not enough, we have to recognise the value of their work. #EUMinimumWages pic.twitter.com/9zwNYDfQgy
— Nicolas SCHMIT (@NicolasSchmitEU) October 28, 2020
Die Corona-Heldinnen und -Helden: Applaus ist nicht genug
Als die COVID-19-Pandemie auch unseren Kontinent erreichte, haben Millionen von Beschäftigten an vorderster Front in ganz Europa unsere Gesellschaften am Laufen gehalten und dabei auch ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Genau diese Beschäftigten, die während der Pandemie systemrelevante Dienstleistungen erbringen, befinden sich allerdings ebenso wie die Beschäftigten im Einzelhandel, in den Lebensmittelversorgungsketten und in der Pflege am unteren Ende der Lohnskala. Die COVID-19-Pandemie hat sie härter getroffen als alle anderen.
Trotz der blumigen Dankesbotschaften werden viele dieser Beschäftigten nach wie vor nur knapp über der Armutsgrenze entlohnt. Müllwerker, Beschäftigte im öffentlichen Personenverkehr, Plattformarbeiter und Beschäftigte in der Landwirtschaft gelten zu Recht als „Heldinnen und Helden“ im Zusammenhang mit COVID-19. Unsere Anerkennung müssen wir zumindest in Form eines angemessenen Mindestlohns zum Ausdruck bringen.
Es ist daher kein Zufall, dass einer kürzlich durchgeführten Eurobarometer-Umfrage zufolge neun von zehn Europäerinnen und Europäern es für „wichtig“ halten, dass Europa sich stärker für Chancengleichheit und einen gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang, gerechte Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion einsetzt.
Ein Arbeitsplatz allein ist kein Garant für einen angemessenen Lebensstandard. Daher konzentriert sich der Vorschlag der Europäischen Kommission für angemessene Mindestlöhne auf folgende vier Säulen:
- angemessene Mindestlöhne sowie Vorschläge für Leitlinien und Indikatoren zur Bewertung ihrer Angemessenheit unter Berücksichtigung der nationalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen;
- wirksamer Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU, einschließlich der Förderung der Tarifbindung mit von den Sozialpartnern ausgehandelte Tarifverträgen;
- Einbeziehung der Sozialpartner in die Anpassung und den Abschluss von Tarifverträgen;
- Festlegung klarer und stabiler Kriterien für die Anpassung des Mindestlohns.
Die vorgeschlagene Richtlinie trägt auch den grundlegenden Unterschieden Rechnung, die bei der Festlegung von Mindestlöhnen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten bestehen. Zwar gibt es für Länder mit gesetzlichem Mindestlohn Richtwerte für dessen Angemessenheit, diese gelten jedoch nicht für Länder, in denen Mindestlöhne ausschließlich im Rahmen von Tarifverhandlungen festgelegt werden.
Europäische Regionen und Städte fordern gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen
Die Regionen und Städte in Europa haben auf der Plenartagung des Europäischen Ausschusses der Regionen im März 2021 den Vorschlag für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne unterstützt. Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften setzen sich für eine sozialere, gerechtere und nachhaltigere soziale Marktwirtschaft ein, die nur erreicht werden kann, wenn die Erwerbsarmut bekämpft und eine Aufwärtskonvergenz bei den Mindestlöhnen sichergestellt wird.
SPE-Mitglied Peter Kaiser, Landeshauptmann von Kärnten und Berichterstatter des Europäischen Ausschusses der Regionen für die Stellungnahme zu Angemessenen Mindestlöhnen in der Europäischen Union, betonte, dass angemessene Mindestlöhne ein wichtiger Baustein der europäischen sozialen Säule sind: „Die Coronavirus-Pandemie hat uns im Alltag vor Augen geführt, dass gerade Geringverdienende unsere Gesellschaft in der Krise tatkräftig unterstützt haben. Das verdient Anerkennung, erfordert aber vor allem auch konkretes Handeln. Die Erwerbsarmut und die Abwärtsspirale des ungesunden Arbeitskostenwettbewerbs müssen dringend bekämpft werden. Damit sich Arbeit in der EU für alle lohnt, brauchen wir eine verbindliche europäische Zielvorgabe für einen Mindestlohn von mindestens 60 % des jeweiligen nationalen Bruttomedianlohns und 50 % des jeweiligen nationalen Bruttodurchschnittslohns. Bei dem diesbezüglich einzuleitenden Konvergenzprozess müssen die bestehenden nationalen Systeme der Lohnfindung und die Autonomie der Sozialpartner respektiert werden“.
Auch wenn die Mitgliedstaaten weiterhin uneingeschränkt für die Festlegung von Mindestlöhnen zuständig sind, kommt den Regionen der EU eine wichtige Aufgabe dabei zu, diesen Prozess der sozialen Aufwärtskonvergenz voranzutreiben. So sind die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften an der Durchsetzung der Richtlinie beteiligt, beispielsweise bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und der Aushandlung regionaler Tarifverträge.
Vasco Cordeiro, Erster Vizepräsident des Europäischen Ausschusses der Regionen und Mitglied der SPE-Fraktion, schloss sich dieser Ansicht an: „Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften verfügen über die besten Voraussetzungen, um die vorgeschlagene Richtlinie durchzusetzen, zu fördern und zu überwachen. Neben dem Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und dem Sozialgipfel von Porto ist auch diese Richtlinie ein Beweis dafür, wie wichtig der EU die Menschen, die soziale Dimension und die Erholung nach Überwindung der Pandemie bei ihren Bemühungen sind.
"Damit Arbeit sich für alle lohnt, brauchen wir eine verbindliche Zielsetzung für #Mindestlöhne.
— PES Group Committee of the Regions (@PES_CoR) March 18, 2021
Dabei muss der europäische Konvergenzprozess die bestehenden nationalen Systeme der Lohnfindung und die Autonomie der Sozialpartner respektieren." @PeterKaiserSP #CoRplenary pic.twitter.com/sBJlDkiXW8
Mindestlöhne als Kernstück eines fairen, gerechten und inklusiven Wiederaufbaus
Die Krise hat der Europäischen Union gezeigt, dass ein Wiederaufbau ohne Fokussierung auf eine faire, gerechte und inklusive Wirtschaft, in der niemand zurückgelassen wird, nicht möglich ist. Angesichts der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Einkommen der Beschäftigten könnten Mindestlöhne ein echtes Sicherheitsnetz gegen die Gefahr von Armut trotz Erwerbstätigkeit bilden.
Nun liegt es in den Händen des Europäischen Parlaments, insbesondere der Berichterstatterin Agnes Jongerius (S&D/Niederlande), und des Rates der Europäischen Union, für angemessene Mindestlöhne zu sorgen und die Bekämpfung der Erwerbsarmut zu einer Top-Priorität zu machen!
***
Foto von Ahsanization ッ auf Unsplash.