Dieses Interview ist Teil unserer Reihe #ProgressiveLocalStories, die darauf abzielt, das Bewusstsein für die vielen positiven Initiativen zu schärfen, die fortschrittliche Städte und Regionen in Europa im Bereich der Ziele für nachhaltige Entwicklung ergriffen haben. Städte und Regionen sind zu Laboratorien für innovative Lösungen geworden. Mit dieser Reihe möchten wir herausfinden, wie fortschrittliche Bürgermeister/-innen, Stadträte/-innen und Regionalpräsidenten/-innen Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise, zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten und zum Aufbau nachhaltigerer Gemeinschaften erfolgreich umsetzen.
Frau Oberbürgermeisterin, warum ist Ludwigshafen eine fortschrittliche Stadt?
Ludwigshafen ist eine noch junge Stadt, die vor allem durch die Industrie entwickelt und geprägt wurde. Dementsprechend waren die Verantwortlichen schon früh mit sozialen Fragen als auch Umweltbelastungen konfrontiert, die es zu klären galt. Diesen Aufgaben hat man sich stets mit großem Engagement und erfolgreichen Projekten gestellt. Nachhaltige und sozial verantwortliche Wohnungsbaupolitik wurde kontinuierlich seit dem 19. Jahrhundert betrieben. In Ludwigshafen existierte beispielsweise bereits in den 1950er Jahren die erste Luftreinhalteplanung – noch bevor das Bundesimmissionsschutzgesetz überhaupt in Kraft getreten war – und setzt sich bis heute in einer zukunftsweisenden „Green City Masterplanung“ fort.
Ludwigshafen ist auch deshalb eine fortschrittliche Stadt, weil sie als wachsende, wirtschaftlich florierende und multinationale Stadt am Puls der Zeit sein muss. Sie muss mit allen neuen Herausforderungen schnell und konstruktiv umgehen und innovative wie passgenaue Lösungen entwickeln – gerade auch bezüglich der Beseitigung sozialer Ungleichheiten und beim Aufbau einer nachhaltigen Stadtgemeinschaft.
Durch die aktuelle Situation rund um die Hochstraßen Süd und Nord befindet sich die Stadt darüber hinaus in einem infrastrukturellen Transformationsprozess. Am 22. August 2019 musste die Hochstraße Süd gesperrt werden. Grund für die Sperrung ist, dass Veränderungen an vorhandenen Rissen in der Stützkonstruktion aufgetreten sind. In wenigen Wochen wird der betroffene Abschnitt abgerissen. Diese aktuellen Ereignisse münden in einer neuen Klima- und Mobilitätsdebatte, die in Deutschland bisher einmalig ist. Diskutiert wird u.a., wie mit öffentlichem Raum umgegangen wird oder wie Bürgerbeteiligung sowie Verkehrslenkung digitalisiert und zusammengenführt werden kann.
Bildnachweis: Stadt Ludwigshafen
Welche konkreten Maßnahmen haben Sie ergriffen (oder laufen derzeit noch), um Ihre Stadt zu einem nachhaltigen Ort zu machen und die Ziele für nachhaltige Entwicklung umzusetzen?
Bekämpfung der Klimakrise:
Die zuvor erwähnte Luftreinhalteplanung wird seitens des Bereichs Umwelt regelmäßig überprüft und aktualisiert. Ein zugehöriges gemeinsames Förderprojekt wird derzeit in Kooperation mit den Nachbarkommunen der Metropolregion Rhein-Neckar Mannheim und Heidelberg durchgeführt: der Masterplan Green City. Damit werden seit 2018 u.a. über das Bundesförderprogramm "Saubere Luft" die Handlungsschwerpunkte Digitalisierung, Elektrifizierung des Verkehrs, Intelligente Vernetzung des ÖPNV, die Förderung des Radverkehrs sowie die Weiterentwicklung der urbanen Logistik anhand von Einzelprojekten und Maßnahmen vorangetrieben. Diese Maßnahmen zielen auf die Reduzierung der Stickstoffdioxidbelastung ab, um den seit 2010 geltenden Immissionsgrenzwert von 40 µg/m³ auch kurzfristig einzuhalten und zur weiteren Verbesserung der Luftqualität beizutragen.
Schon seit den 1970er Jahren setzten wir uns in Ludwigshafen ebenfalls aktiv mit dem Energiesparen auseinander: zunächst mit dem 3-Liter-Haus, später mit dem 1-Liter-Haus sowie dem Null-Heizkosten-Haus wurden hier neue Maßstäbe in Sachen Energieeffizienz gesetzt. Diese Bestrebungen setzt die Stadt auch mit neuen Projekten fort. Im Klimaquartier Ludwigshafen Süd werden durch das Projekt „Süd-saniert“ mit Hilfe einer KfW-geförderten städtebaulichen Sanierung gezielt energetische Modernisierungen vorgenommen.
Ein weiteres innovatives Projekt im Bereich des Klimaschutzes stellt das Solarkataster dar. Hier kann jedes Dach in Ludwigshafen auf Grundlage von neuesten Luft- und Laserscandaten in einer Internetanwendung auf seine Eignung für Solarstromgewinnung untersucht und direkt mit voraussichtlichen Kosten sowie passenden Förderprogrammen hinterlegt werden.
Einen weiteren Schwerpunkt der nachhaltigen Stadtentwicklung in Ludwigshafen bildet seit den 1990er Jahren die Gewässerrenaturierung. Die Maßnahmen dienen der Rückführung begradigter Gewässer in ihren natürlichen Verlauf, einerseits um ökologische Aufwertungen zu erreichen und neue Lebensräume für Arten zu schaffen als auch andererseits vor Hochwasser oder Starkregenereignissen durch Schaffung von Retentionsräumen zu schützen. Aktuell läuft der zweite Bauabschnitt der Renaturierung des Altrheingrabens in Ludwigshafen-Oggersheim.
Bei aktuellen Groß- und Bauprojekten wird in Ludwigshafen auf aktive Bürgerbeteiligung gesetzt. Im Internetforum finden sich die neuesten Informationen als auch Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und vor allem der aktiven Beteiligung für Bürger*innen. Für diese Form der gelungenen Beteiligung im Rahmen der Hochstraßenplanung erhielt die Stadt zwei nationale Auszeichnungen.
Ludwigshafen befindet sich auf dem Weg zur fairen Stadt. Die Initiative Fairtradetown-Ludwigshafen (bestehend aus städtischen Vertreter*innen als auch Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, Vereinen und Institutionen) motiviert Einzelhandel und Gastronomie, sich mit mindestens zwei fair gehandelten Produkten in ihrem Sortiment für einen fairen und nachhaltigen Handel einzusetzen. Zahlreiche Veranstaltungen schaffen auch bei der Bevölkerung Bewusstsein für die Themen einer fairen und nachhaltigen Lebensweise (die Erfüllung aller Kriterien zur fairen Stadt wird für dieses Jahr angestrebt).
Im Umweltdienstleistungszentrum der Stadt sorgen Abfall- und Umweltberatung mit ihrem breit gefächerten Angebot u.a. an Aktionen oder Bildungsmodulen für Aufklärung sowie Anstoß zum nachhaltigen Handeln innerhalb der Verwaltung als auch bei den Bewohner*innen, insbesondere bei der jungen Generation. So wird beispielsweise regelmäßig der städtische Umweltpreis verliehen, der vorbildliche Projekte des Umwelt- und Naturschutzes auszeichnet.
Beseitigung sozialer Ungleichheiten:
Aktuell erarbeiten wir als Stadtverwaltung unter dem Motto "Wir alle sind LU" mit kooperierenden Institutionen wie dem Jobcenter, dem BAMF, der Liga der Wohlfahrtsverbände sowie mit Sport- und Kultureinrichtungen eine Strategie für Qualität und Vielfalt in Ludwigshafen.
Darüber hinaus spielt das komplexe Thema Armutsbekämpfung in Ludwigshafen eine große Rolle. So wurde bereits im Herbst 2018 vom Jugenddezernat eine Strategie zur Vermeidung von Kinder- und Jugendarmut entwickelt. Außerdem gibt es seit Frühjahr 2019 ein zweimal im Jahr stattfindendes Netzwerktreffen "Armut begegnen – gemeinsam handelt" mit themenrelevanten Einrichtungen, wie der Tafel, Caritas, Diakonie, AWO, Ökumenische Fördergemeinschaft, Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft, Verbraucherzentrale und weitere.
Seit Anfang 2020 arbeitet die Stadtverwaltung Ludwigshafen bei dem Rheinland-Pfälzischen Projekt "Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsprävention" in Kooperation mit Jobcenter und Bundesagentur für Arbeit mit. Damit sollen sogenannten vulnerablen Zielgruppen, wie arbeitslosen Menschen, niedrigschwellige gesundheitsstabilisierende und -präventive Angebote auf neuen Wegen nahegebracht werden.
Im Frühjahr 2017 hat sich die PLUS-Gesundheitsinitiative Hepatitis C in Ludwigshafen gegründet, mit dem Ziel, die gesundheitliche Chancengleichheit für Menschen mit Suchterkrankungen schrittweise zu erreichen. Es ist eine gemeinsame Initiative der städtischen Drogenhilfe zusammen mit Substitutionsmediziner*innen, dem Ärztenetzwerk GO-LU, Krankenkassen wie IKK Südwest und AOK, dem städtischen Klinikum (Infektiologie und Hepatologie), dem Krankenhaus zum Guten Hirten (Psychiatrie und Psychotherapie), dem Jobcenter, den Street Docs für Obdachlose und dem in Ludwigshafen ansässigen Pharmakonzern AbbVie.
Die Stadtverwaltung beschäftigt sich bereits länger mit der Aufgabe neue Obdachlosigkeit (Zwangsräumungen) zu vermeiden. Künftig werden verstärkt die Paragraphen 67 ff im Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) angewandt und ein entsprechendes Fallmanagement zusammen mit einer steuernden Sozialplanung wird aufgebaut werden. Stadtweit gibt es für das Thema "Knapper Wohnraum" eine neue strategische Ausrichtung – mit einer Leitstelle Wohnen im Bereich Stadtentwicklung. Eine sogenannte Sozialquote wurde beschlossen und mit der Teilnahme am rheinland-pfälzischen ExWoSt-Förderprogramm beabsichtigt die Stadt die Grundlagen zu schaffen, um verstärkt neuen, auch sozialen, Wohnraum zu ermöglichen.
Bildnachweis: Stadt Ludwigshafen
Wie kann die Europäische Union dazu beitragen, Ihre Stadt nachhaltiger zu machen? Wie kann Europa Städten und Regionen besser helfen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen?
Das Wichtigste für eine handlungsfähige und fortschrittliche Stadtverwaltung ist es, einen gewissen finanziellen Spielraum bei den freiwilligen Aufgaben zu haben. Denn auf dieser Ebene wird für den "Kitt" in unserer Gesellschaft, den sozialen Zusammenhalt, gesorgt. Die genannten Projekte sind freiwillige Aufgaben, die leider in den letzten Jahren von der Finanzaufsicht der Länder (ADD) durch immer höhere Sparauflagen immer weiter eingeschränkt wurden. Dabei wäre es ganz im Gegenteil wichtig, dass das Konnexitätsprinzip eingehalten wird und (neue) Aufgaben für die Kommunen zu 100 Prozent von Bund und Land gegenfinanziert werden – also auch die Personalkosten. Dies findet aber derzeit nicht statt. Daher kommen Kommunen wie Ludwigshafen, allein aufgrund der stetig steigenden Sozialkosten, immer weiter in einen Schuldenstrudel. Entsprechend könnte nur ein Schuldenschnitt und ein künftig konsequent eingehaltenes Konnexitätsprinzip hoch verschuldeten Städten wie Ludwigshafen helfen, weiterhin ihre innovative Kraft zu entfalten.
Inwieweit die Europäische Union darauf hinwirken kann, bliebe zu beantworten. Allerdings könnten auch EU-Förderprogramme mit niedrigem Verwaltungs- und Bürokratieaufwand sowie der Finanzierung von benötigten Personalressourcen Kommunen helfen, notwendige neue Aufgaben anzupacken. Dies würde sicherlich einen Paradigmenwechsel in der EU bedeuten und müsste rechtlich geprüft werden – könnte aber für die Zukunft der Kommunen eine entscheidende Unterstützung sein. Zudem könnte die EU damit für die kommunale Ebene, also die Bürger*innen, greifbarer werden.
In den Bereichen Klimaschutz und Klimaanpassung sowie insbesondere in der nachhaltigen Städteplanung, beispielsweise zur nachhaltigen Grünflächenplanung, ist eine gezielte Förderung nachhaltiger Stadtentwicklung wünschenswert. Auch gezielte Förderungen zur Erfüllung der globalen Nachhaltigkeitsziele in Form von Personalförderung und Knowhow-/Best-Practice-Transfer wären eine große Unterstützung. Die Angebote sollten leicht zugänglich sein, nicht zu hohe bürokratische Hürden aufweisen und sich nicht zu kompliziert in der Abwicklung gestalten.
Auch mit Blick auf die Thematik „Digitalisierung“ wäre ein besserer Wissenstransfer innerhalb der EU wünschenswert. Denkbar wäre z.B. ein Thinktank oder ebenfalls ein Best-Practice-Transfer für europäische Städte.
Bürgerdialog: Neues Format, neuer Ort
— lu-diskutiert.de - Hochstraßen Ludwigshafen (@ludiskutiert_de) November 28, 2019
"Nord, Süd? Oben, unten?" mit dieser Fragestellung lädt die Stadtverwaltung Interessierte am Donnerstag, 12. Dezember, 15 bis 19 Uhr, in die Rhein-Galerie ein.
Alle Infos gibt es hier:
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Jutta Steinruck ist seit 2018 Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen. Von 2009 bis 2017 war sie Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie gehört der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an.
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Bildnachweis: apfelweile auf adobe stock