Schengen-Reform: vereinen oder trennen?

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Schengen-Reform: vereinen oder trennen?

Oft wird gesagt, dass kleine Dinge einen großen Unterschied machen können. Das gilt auch für Orte, wie beispielsweise für das nur rund 4 800 Einwohner zählende Dorf Schengen, das an der Mosel im Dreiländereck zwischen Luxemburg, Deutschland und Frankreich liegt. Hier wurde 1985 auf einem Fahrgastschiff das historische Schengener Übereinkommen unterzeichnet. Und damit trat die EU ihre Fahrt in Richtung eines grenzenlosen Europas an.

Navigieren durch unsichere Zeiten

Fast vier Jahrzehnte später befindet sich das Übereinkommen, das zu den greifbarsten Errungenschaften der europäischen Integration zählt, in schwierigem Fahrwasser. Während der bereits seit einiger Zeit laufenden Debatten über die Reform der Governance des Schengen-Raums traten neue Probleme auf: die beispiellosen Reisebeschränkungen infolge der Pandemie seit 2020; der Druck auf die Grenzen Polens, Lettlands und Litauens infolge der von Belarus geförderten großen Zahl unerlaubter Migrationsbewegungen von Drittstaatsangehörigen im Jahr 2021; und die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste größte Vertreibungswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Angesichts der Versuche mehrerer EU-Mitgliedstaaten, nahezu dauerhafte Binnengrenzkontrollen einzuführen, bezeichnete der Europäische Gerichtshof die permanente Durchführung solcher eigentlich kurzfristigen Kontrollen als unzulässig. Im April 2022 urteilte der EuGH, dass die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen auf sechs Monate beschränkt sein müssen, selbst im Falle einer ernsthaften Bedrohung.

Wir brauchen einen neuen Kompass 

Im Dezember letzten Jahres legte die Europäische Kommission ihren seit Langem erwarteten Vorschlag zur Änderung des Schengener Grenzkodexes vor, in dem die Vorschriften für Kontrollen an den EU-Binnen- und Außengrenzen festgelegt sind. Der Vorschlag stützt sich auf die Lehren aus der Pandemie und zielt darauf ab, starke Koordinierungsmechanismen für den Umgang mit Gesundheitsgefahren und Bedrohungen der inneren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten. Eine zweite Verordnung sieht zusätzliche Maßnahmen im Rahmen der Asyl- und Rückführungsvorschriften der EU vor. Damit soll geklärt werden, wie die Mitgliedstaaten auf Fälle der Instrumentalisierung von Migranten für politische Zwecke reagieren können.

Wie aber können wir für einen besser funktionierenden Schengen-Raum und eine wirksame Kontrolle der Außengrenzen der Union sorgen und gleichzeitig die Freizügigkeit als Eckpfeiler des europäischen Projekts verteidigen und die Menschenrechte achten?

Eines ist sicher: Die Sozialdemokraten haben ernste Bedenken gegen das Vorschlagspaket der Kommission geäußert, das den nationalen Regierungen bei der Einführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU mehr Spielraum gibt. „Durch die Nutzung des Schengen-Regelwerks als Migrationsinstrument gefährden die Vorschläge der Kommission eine der größten Errungenschaften der EU und ermöglichen es den nationalen Regierungen, die Freizügigkeit zu kapern und Grenzkontrollen zu nutzen, um daraus innenpolitisches Kapital zu schlagen. Freizügigkeit ist aber kein Spielball der Politik, und wir lehnen jede Politisierung des Schengen-Raums entschieden ab, so die mahnenden Worte von Birgit Sippell, innenpolitische Sprecherin der Sozialdemokratischen Fraktion.

Die französische sozialdemokratische Abgeordnete Sylvie Guillaume, im Europäischen Parlament für die Schengen-Reform zuständig, hat zudem betont, dass ihr „Ziel darin besteht, die Instrumentalisierung der Migration aus dem Schengener Grenzkodex zu streichen, wo sie nicht hingehört. Der Rat hat die Definition der Instrumentalisierung außerdem um einen problematischen Aspekt erweitert: Sie bezieht sich jetzt nicht mehr nur auf Drittstaaten, sondern auch auf nichtstaatliche Akteure. Man könnte sich also fragen, ob etwa Organisationen, die Migranten unterstützen, unter die Definition der Instrumentalisierung fallen.“

Progressive Städte und Region mit an Bord

Die Beschränkung der Freizügigkeit hat enorme Auswirkungen auf Städte und Regionen, vor allem in Grenzregionen, die bereits in den letzten Jahrzehnten und vor allem während der Pandemie die größten Rückschläge bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erlitten haben. Untersuchungen der Arbeitsgemeinschaft europäischer Grenzregionen (AGEG) zufolge kam es bei der Umsetzung des Schengen-Raums in den letzten fünfzehn Jahren aus unterschiedlichen Gründen zu über einhundert Unterbrechungen – und damit zu Unklarheiten und Störungen in vielen Grenzregionen in ganz Europa.

Schengen und die Migrationsrechte müssen in Krisenzeiten unangetastet bleiben. Diese Auffassung wird von progressiven Städten und Regionen vertreten. SPE-Fraktionsmitglied Antje Grotheer, Vizepräsidentin der Bremischen Bürgerschaft und Berichterstatterin des Europäischen Ausschusses der Regionen für das neue Migrations- und Asylpaket und für die Schengen-Reformen, dazu: „Wir müssen die Folgen der Binnengrenzkontrollen für die Grenzregionen eindämmen. Angesichts der Instrumentalisierung von Migranten für politische Zwecke brauchen wir gleichzeitig eine klare und restriktive Definition des Begriffs der Instrumentalisierung auf europäischer Ebene, die keinen Raum für Fehlinterpretationen lässt. Wir sollten unsere Bemühungen auf die dafür verantwortlichen Regierungen richten, anstatt die Menschen zu bestrafen, die Opfer solcher Manöver werden.“

Antje Grotheer fordert die Europäische Kommission auf, ihren Vorschlag für eine Verordnung zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl gründlich zu überprüfen und den Schengener Grenzkodex entsprechend zu überarbeiten, und mahnt: „Die Instrumentalisierungsverordnung birgt die Gefahr, Ausnahmen vom einheitlichen EU-Asylrecht zuzulassen und über das hinauszugehen, was erforderlich ist, um das Ziel der Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu erreichen, nämlich ein Drittland an der Instrumentalisierung von Migranten zu hindern.“

Gleichzeitig unterbreitet sie eine Reihe konkreter Vorschläge zur Governance des Schengen-Raums, darunter:

  • bessere Berücksichtigung der potenziell einschneidenden Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Leben der Grenzregionen, einschließlich der Verpflichtung, die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften zu konsultieren, wenn die EU-Mitgliedstaaten Kontrollen an den Binnengrenzen vorschreiben;
  • Gewährleistung eines effizienten und wirksamen Grenzmanagements, das den Regionen nicht schaden oder das Recht auf Asyl für Migranten einschränken darf, von denen viele minderjährig sind;
  • Festlegung konkreter quantitativer und qualitativer Kriterien für die Einstufung einer Situation als „Instrumentalisierung“. Dabei sollte dieser Begriff nur dann angewendet werden, wenn der betroffene Mitgliedstaat nachweisen kann, dass solche Handlungen wesentliche staatliche Funktionen gefährden;
  • Ausrichtung der politischen Maßnahmen auf die Regierungen der Drittländer, die für die Instrumentalisierung verantwortlich sind, anstatt diejenigen zu bestrafen, die Opfer solcher Handlungen sind.

Die progressiven Städte und Regionen wissen, dass etwas bewirkt werden kann, wenn sich viele Menschen an vielen Orten zusammentun. Sie werden Schengen weiterhin mittels eines koordinierten europäischen Ansatzes verteidigen, der die Achtung der Menschenrechte und des Rechts auf Asyl sowie des freien Personenverkehrs gewährleistet. Aber werden sich die Regierungen der Mitgliedstaaten auch für einen Schengen-Raum starkmachen, der uns vereint, anstatt uns zu trennen?

© Bildnachweis: Catalin Pop auf Unsplash

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