Dieses Interview ist ein Beitrag für unsere Kampagne für eine Kinderunion und Teil unserer Reihe #ProgressiveLocalStories, die darauf abzielt, das Bewusstsein für die vielen positiven Initiativen zu schärfen, die fortschrittliche Städte und Regionen in Europa im Bereich der Ziele für nachhaltige Entwicklung ergriffen haben. Städte und Regionen sind zu Laboratorien für innovative Lösungen geworden. Mit dieser Reihe möchten wir herausfinden, wie fortschrittliche Bürgermeister*innen, Stadträt*innen und Regionalpräsident*innen Maßnahmen im Bereich der Kinderpolitik erfolgreich in Städten und Regionen umsetzen.
Kinderrechte in Österreich
von Andreas Schieder, MdEP (S&D, Österreich )
In Österreich jährte sich im Februar das Inkrafttreten des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern. Vor zehn Jahren wurde intensiv debattiert, wie man mit den rund 45 Artikeln der UN-Konvention über die Rechte von Kindern verfahren sollte. Aus der dringlichen Forderung vieler NGOs, die gesamte Konvention in den Verfassungsrang zu heben, wurden schlussendlich acht einzelne Artikeln in das BVG-Kinderrechte übernommen. Die besagten acht Artikeln betonen vorwiegend die zentralen Punkte der Kinderrechte: Schutz, Fürsorge und Selbstbestimmungsrechte von Kindern.
Allerdings zeigt die Realität, dass die praktikable Umsetzung in vielen Politikfeldern nach wie vor ungenügend ist. In einem wohlhabenden Land, wie Österreich, ist Kinderarmut und mangelhafter Zugang zu Grundbedürfnissen nicht akzeptabel. Jedes fünfte Kind in Österreich ist von Armut betroffen. Besonders armutsgefährdet sind Kinder in Haushalten mit mehr als drei Kindern und Alleinerziehenden. Das wirkt sich unmittelbar auf alle Lebensbereiche und Entwicklungspotentiale der betroffenen Kinder aus, denn sie leiden häufiger an Krankheiten und haben weniger soziale Kontakte. Im Jahr 2019 startete die Volkshilfe Österreich europaweit ein einzigartiges Pilotprojekt: Die Bekämpfung von Kinderarmut durch eine Kindergrundsicherung. Zwei Jahre lang werden neun Familien und insgesamt dreiundzwanzig Kinder durch die Kindergrundsicherung gefördert. Diese soll allen Kindern in Österreich einen guten Start in das Leben ermöglichen, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern. Das Modell der Kindergrundsicherung transferiert einen monatlichen Betrag von mindestens 200 Euro mit der zusätzlichen Komponente, dass Kinder aus Haushalten mit geringeren Familieneinkommen Zuschüsse bis zu 425 Euro monatlich erhalten. Das Ergebnis wäre eine Umwandlung der jetzigen Familienbeihilfe in eine treffsichere und bedarfsgerechte Sozialstaatsleistung. Das bedeutet etwa konkret, dass Kinder in Haushalten mit einem Einkommen von unter 20.000 Euro jährlich 625 Euro monatlich bekommen, Kinder aus Haushalten mit einem jährlichen Einkommen von über 35.000 Euro einen universellen Betrag von 200 Euro. Das Zwischenergebnis des Pilotprojekts zeigte, dass sich sowohl die materielle Lebenswelt als auch soziale Partizipation der Kinder in allen Bereichen signifikant verbessert hat.
Auch der Schutz von Kindern vor physischer und psychischer Gewalt, oftmals in den eigenen vier Wänden, ist ein wichtiges Thema, das mehr Aufmerksamkeit und Maßnahmen verlangt. Die Materiengesetze, die das Kindeswohl betreffen, müssen in Einklang mit den verfassungsmäßigen garantierten Kinderrechten gebracht werden. Die Verletzung von geltenden Kinderrechten ist nicht akzeptabel und grundsätzlich braucht es regelmäßige Evaluierungen, ob der Schutz aller Kinder in Österreich durch die aktuellen Gesetze gewährleistet ist. Eine repräsentative Befragung zur Einstellung und Bewusstsein zu Gewalt an Kindern in der österreichischen Bevölkerung hat ergeben, dass nach mittlerweile 30 Jahren des gesetzlich verankerten Gewaltverbots in der Erziehung sich lediglich die Hälfte der Befragten für eine gewaltfreie Erziehung als ideale Erziehungsform äußern. Dieses Resultat verdeutlicht, dass dringende Aufklärungsarbeiten und Bewusstseinsbildungen zu Kinderrechten sowie Gewaltpräventionen in diesen Bereichen notwendig sind. Seit Anfang Jänner 2021 haben Kinder, die Zeugen häuslicher Gewalt wurden, Anspruch auf Opferrechte wie Prozessbegleitungen. Daher braucht es in diesem Bereich begleitende Informationsmaßnahmen und eine Aufstockung der Ressourcen für Kinderschutzorganisationen zur Umsetzung dieser Rechte.
Außerdem muss immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass die Grundlage für Bildungskarrieren im Kindergarten geschaffen werden. Bildung beginnt bei den jüngsten Kindern und dementsprechend muss in der Elementarpädagogik angesetzt werden. Diese Einrichtungen des Bildungssystems gewährleistet die bestmögliche Förderung aller Kinder – unabhängig von deren Geschlecht, Muttersprache oder vom Bildungsstand der Familie. Der bundesweite Ausbau von pädagogischen und organisatorischen Standards für den elementarpädagogischen Bereich ist ein unabwendbarer Schritt, um die Startbedingungen aller Kinder zu verbessern. Insbesondere bei der Betreuungsquote von unter 3-Jährigen schneidet Österreich mit 23 Prozent im EU-Vergleich unterdurchschnittlich ab. Der EU-27 Durchschnitt liegt in der Betreuungsquote von Kindern unter 3 Jahren bei 35 Prozent. Dadurch wird der Wiedereinstieg in das Berufsleben für Frauen besonders erschwert, denn es gibt eine große Lücke im Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung zwischen Kindern unter und über 3 Jahren. In Österreich sind die Zuständigkeiten der Kinderbetreuung bei den Bundesländern, sodass die Umsetzungen und Gesetze regional unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise ist in Oberösterreich die Nachmittagsbetreuung ab 13 Uhr kostenpflichtig, wohingegen nur in Wien und Burgenland beitragsfreie Kindergartenplätze angeboten werden. Ein weiteres Problem sind die eingeschränkten Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen. Ein Drittel der Kindergärten und Krabbelstuben schließt in Österreich vor 16 Uhr und für die Nachmittagsbetreuung fallen in den meisten Bundesländern noch zusätzliche Kosten an. Die Mehrfachbelastung durch zusätzliche Betreuungspflichten betreffen überwiegend Frauen. In Österreich gehen nur 23 Prozent aller Mütter, deren Kinder unter 6 Jahre alt sind, einer Vollzeitanstellung nach.
Allgemein muss in zukünftigen Stadtentwicklungsprozessen die Sichtweise und Mitbestimmung von Kindern berücksichtigt werden. Die Kinder und- Jugendstrategie 2020 - 2025 der Stadt Wien verfolgt das Ziel, Wien zur kinder- und jugendfreundlichsten Stadt der Welt zu machen. Dadurch sollen Perspektiven und Interessen von Kindern- und Jugendlichen in politische Entscheidungen miteinbezogen werden.
Auf europäischer Ebene müssen wir Folgendes umsetzen um unsere Kinder zu beschützen:
- Eine europäische Kindergarantie für alle Kinder, um Kinderarmut ein Ende zu bereiten.
- Klare europäische Regelungen mit Sanktionen, um uns und unsere Kinder vor Fake News, Hassreden und anderem zu schützen.
- Das Recht auf einen Kindergartenplatz für alle Kinder.
- Weiters sollen Kindererziehungszeiten in ganz Europa eine finanzielle Anerkennung erfahren: Wir brauchen eine 4-Tage-Woche damit sich die Beschäftigten bei Hausarbeit und Kindererziehung einbringen können.
Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie dürfen Bedürfnisse von Kindern nicht vernachlässigt werden. Die aus gesundheitlicher Sicht zwar notwendigen Kontaktbeschränkungen sorgen für Isolation und bringen alarmierende Folgeschäden für Kinder mit sich. Das Home-Schooling auf beengtem Lebensraum wirkt sich insbesondere in einkommensschwache Haushalte drastische aus. Um psychische Folgeschäden zu minimieren, muss hier nach dem Vorbild der Stadt Wien ein flächendeckendes Maßnahmenpaket zur psychosozialen Gesundheit geschnürt werden.
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Die Wiener Kinder- und Jugendstrategie
von Michael Ludwig, Bürgermeister von Wien und Mitglied der SPE-Fraktion
Kindern und Jugendlichen eine geglückte Kindheit und Jugend mit guten Zukunftschancen zu ermöglichen ist eine wichtige Aufgabe nicht nur jedes Staates, sondern auch regionaler und lokaler Politik und Verwaltung. Die Wiener Stadtregierung hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der Frage beschäftigt, wie diese Aufgabe gelingen kann, und hat für die Beantwortung den ebenso naheliegenden wie herausfordernden Weg gewählt, nicht nur über Kinder und Jugendliche zu sprechen, sondern mit ihnen. Herausgekommen ist dabei eine von Kindern und Jugendlichen entwickelte Stadt-Strategie.
Bereits im Jahr 1992 hat Österreich die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ratifiziert. In der Konvention ist das Kinderrecht auf Partizipation als Grundprinzip verankert. Das bedeutet, dass Kinder in alle Entscheidungen, die sie betreffen, angemessen – sprich: ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechend – eingebunden werden sollen, statt bloß vom Wohlwollen Erwachsener abhängig zu sein. Partizipation ist aus vielen psychologischen, gesellschafts- und demokratiepolitischen Gründen bedeutend. Sie ist wesentlich für eine gedeihliche Entwicklung und ein friedliches, würdevolles Zusammenleben und ermöglicht erst die optimale Umsetzung der Rechte auf Schutz und Versorgung, wie sie im PPP-Prinzip (protection, provision, participation) der UN-KRK enthalten sind.
Diesem Gedanken folgend entstand in Wien die ‚‚Kinder- und Jugendstrategie 2020–2025‘‘. Im Rahmen der Werkstadt Junges Wien beteiligten sich über 22.000 Kinder und Jugendliche aktiv in über 1.300 Workshops in Kindergärten, Schulen und anderen Einrichtungen an der Erstellung der Strategie. Allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihren Lebensbedingungen und individuellen Möglichkeiten Teilnahme und Teilhabe zu ermöglichen war dabei ein grundlegender Anspruch. Der Prozess fand einen vorläufigen Höhepunkt im Juni 2020, als der Wiener Gemeinderat auf Basis der Ergebnisse der Werkstadt Junges Wien die Kinder- und Jugendstrategie beschloss und den Auftrag zur Umsetzung der in der Strategie beschriebenen 193 Maßnahmen erteilte. Die Maßnahmen lassen sich in folgende neun Themenbereiche – gereiht nach ihrer Wichtigkeit aus Sicht der Kinder und Jugendlichen – zusammenfassen: ‚‚Natur und Umwelt“, ‚‚Chancen und Zukunft‘‘, ‚‚Gesundheit und Wohlbefinden‘‘, ‚‚Gemeinschaft und Miteinander‘‘, ‚‚Raum und Platz‘‘, ‚‚Mitsprache und Meinung‘‘, ‚‚Sicherheit und Geborgenheit‘‘, ‚‚Mobilität und Verkehr‘‘, ‚‚Freizeit und Kultur‘‘. Einige der Maßnahmen sind bereits recht konkret beschrieben, wie zum Beispiel die Montage niedrigerer Haltegriffe für Kinder in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Errichtung von Notrufsäulen im öffentlichen Raum oder die Machbarkeitsprüfung zur Umsetzung einer Kindergrundsicherung. Andere Maßnahmen, wie zum Beispiel jene, die die Stärkung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen vorsehen, die Entwicklung von Kinder- und Jugendbeiratsmodellen für Dienststellen und Betriebe der Stadt Wien oder das Vorhaben, einschränkende Rollenbilder weiter aufzubrechen, bieten noch viel Spielraum für die Detailplanung und Ausgestaltung gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen. Bis 2025 werden alle 193 Maßnahmen umgesetzt sein.
Wir machen Wien zu kinder- und jugendfreundlichsten Stadt – nämlich mit ihnen ZUSAMMEN! @BgmLudwig & @ChairNoHorseKey haben die Wiener Kinder- und Jugendstrategie präsentiert . #ludwig2020 pic.twitter.com/xWODLYuTk4
— SPÖ Wien – Die Wienpartei (@SP_Wien) May 28, 2020
Durch ein periodisches Monitoring, das unter Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen erfolgt, wird die Umsetzung der Maßnahmen laufend überprüft und entsprechend den Erfordernissen zur Zielerreichung fortgeschrieben. An diesem Monitoring wirkt auch die Kinder- und Jugendanwaltschaft mit, die als unabhängige und weisungsfreie Dienststelle der Stadt Wien über die Entwicklungen kritisch berichten wird.
Elementarbildung in Wien – schon viel erreicht, noch viel zu tun
Gemeinsam mit der bundesweit eingeführten einjährigen Kindergartenpflicht startete Wien im Jahr 2009 den ganztägig beitragsfreien Kindergarten und setzte damit eine bedeutende Maßnahme für frühe Bildung und die Entlastung von Familien mit Kindern bis zu sechs Jahren. Anspruch war es, Kindern zwischen 0 und 6 Jahren unabhängig vom Einkommen und den Lebensbedingungen ihrer Eltern elementarpädagogische Bildung und Betreuung zukommen zu lassen und ihnen Erlebnisse mit Gleichaltrigen und außerfamiliären Bezugspersonen zu ermöglichen. Und tatsächlich wurde mit dem sogenannten ‚‚Gratiskindergarten‘‘ nicht nur ein wesentlicher Beitrag zu gleichberechtigtem Zugang zu Bildung sowie zu Armutsbekämpfung, Inklusion und gesellschaftlichem Zusammenhalt geleistet, die Kinder profitieren auch von der frühen Sozialisation im Kindergarten und dem Raum für Bildung und spielerisches und auch selbstgesteuertes Lernen, den diese Einrichtungen bieten. In der überwiegenden Mehrzahl der Kindergärten in Wien wird auf hohem pädagogischen Niveau gearbeitet. Wien sticht nicht nur aufgrund der Kostenfreiheit und der hohen Betreuungsquoten, sondern auch aufgrund weiterer Rahmenbedingungen in puncto Familienfreundlichkeit deutlich heraus: Lange Öffnungszeiten und wenige Schließtage tragen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und zur Gleichberechtigung der Geschlechter bei.
Ein erwarteter Effekt dieses Gratis-Angebots war ein steiler Anstieg der Nachfrage an Kindergartenplätzen. Der notwendige schnelle Ausbau der elementarpädagogischen Einrichtungen stellte, auch in Kombination mit dem bereits bestehenden Bedarf nach Verbesserung der organisatorischen, finanziellen und pädagogischen Rahmenbedingungen, die Stadt aber auch vor große Herausforderungen. So stand die notwendige rasche Aufstockung der Plätze, die vor allem durch die Zulassung privater Anbieter erfolgte, in einem gewissen Spannungsverhältnis zur pädagogischen und auch betriebswirtschaftlichen Qualität der Einrichtungen. Das bereits zuvor österreichweit zu hohe Pädagog:in-Kind-Verhältnis und eine den wissenschaftlichen Empfehlungen ebenso wenig entsprechende durchschnittliche Gruppengröße waren nun noch schwerer in den Griff zu bekommen. Auch durch die Aufteilung der elementarpädagogischen Einrichtungen auf städtische und private Träger entstehen Spannungsverhältnisse, in diesem Fall im Zusammenhang mit der Finanzierung der Plätze, die noch nicht ausgeräumt werden konnten. Vor allem existieren aber nach wie vor gravierende Mängel in der Versorgung von Kindern mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen; den Verantwortlichen ist bewusst, dass hier angebotsseitig im Kindergarten noch Handlungsbedarf besteht.
Insgesamt wurde in der Stadt Wien also bereits viel geleistet und es ist gleichzeitig noch einiges zu tun, damit alle Kinder bis zu sechs Jahren elementarpädagogische Einrichtungen besuchen können, in denen sie mit ihren Bedürfnissen umfassend wahrgenommen werden und ganzheitliche Bildung erfahren. Ein wesentlicher Baustein hierfür ist die Verankerung der Kinderrechte in elementarpädagogischen Einrichtungen. Dies schließt die flächendeckende Etablierung von Kinderschutzkonzepten ebenso ein wie die Förderung von Partizipation, sozialem Lernen und Demokratiekultur, damit schon junge Menschen lernen, sich selbst und andere zu verstehen, sich einzubringen und einander zuzuhören. So kann sich im Zusammenwirken von Erwachsenen und Kindern ein Klima entwickeln, in dem Kinder und ihre Rechte bestmöglich geschützt sind.
Abschließend bleibt anzumerken, dass in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Artikeln 14, 24 und 32 einzelne Kinderrechte gesichert werden und die Europäische Union verpflichtet ist, die Rechte des Kindes zu schützen. Die EU-Kinderrechtsstrategie sowie der Vorschlag zur Einführung einer Europäischen Kindergarantie – beide wurden im März 2021 vorgestellt – sind dabei ein wichtiger Schritt hin zu einer europaweiten Durchsetzung der Kinderrechte. Diesen werden weitere folgen müssen, um die Kinderrechte nach dem Vorbild der UN-KRK sicherzustellen.
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Bildnachweise Fotos 1+3 : Stadt Wien/PID, Fotograf Jobst
Bildnachweis Foto 2: flickr / SPÖ Presse und Kommunikation